Wir sprachen mit dem Psychiater Karl H. Beine. Er beschäftigt sich seit 30 Jahren mit Krankenhausmorden. Unter anderem hat er den Fall Niels Högel (er wurde in 89 Fällen vom Landgericht Oldenburg wegen Patientenmordes verurteilt) genau verfolgt und in Medien und Fachkreisen dazu Stellung bezogen.
Herr Professor Beine, viele Pflegefachpersonen sind ratlos, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kollege Gewalt anwendet oder sogar morden könnte. Informieren Sie Ihre Vorgesetzten, heißt es immer. Das sagt sich leicht. Dazu muss man doch auch Konkretes in der Hand haben?
Prof. Karl H. Beine: Das stimmt. Ich rate daher jedem, bei einem Verdacht sofort anzufangen, die eigenen Beobachtungen aufzuschreiben. Dann würde ich versuchen, mit dem betreffenden Kollegen zu reden. Allerdings nicht nach dem Motto: Ich habe einen Verdacht gegen dich. Stattdessen würde ich sagen: Das und das ist mir aufgefallen, wie kann man das erklären? Wie kannst du dir das erklären? Wie kannst du mir das erklären? Auf jeden Fall würde ich eine offene Frage stellen, eine Frage, die ein Gespräch ermöglicht.
Und im nächsten Schritt?
Ich würde mich anschließend mit vertrauten Kollegen darüber beraten, was zu tun ist, und diese Gespräche ebenfalls dokumentieren. Ohnehin würde ich alles aufschreiben, was ich hinsichtlich meines Verdachts getan habe. Damit würde ich zu meinem Vorgesetzten gehen und ihm gegenüber darauf bestehen, dass gehandelt wird. Was ich zu ihm gesagt habe, würde ich wieder ausführlich notieren, und vor allem auch, wann ich das gesagt habe.
Wenn diese Schritte nichts bringen – und so ist es in Einzelfällen gewesen –, würde ich mich an den Betriebsrat wenden und auspacken: Erzählen, was ich alles bereits unternommen habe, und erklären, ich sei der Auffassung, dass jetzt die Ermittlungsbehörden eingeschaltet werden müssten.
Wenn aber weiterhin keine Reaktion erfolgt – bleibt dann nur eine externe Stelle, also der Weg nach draußen?
Das Problem ist: Was ist denn draußen? Das ist auf keinen Fall die Presse. Nach einer neuen EU-Richtlinie kann, wer einen Missstand melden möchte, wählen, ob er das zuerst intern macht oder sich an eine externe Stelle wie Staatsanwaltschaft oder Aufsichtsbehörde wendet.
[Tatort Krankenhaus – so heißt das aktuelle Buch von Professor Karl-H. Beine (Droemer, 2021), das auch ein Kapitel jeweils über Irene B. und Niels Högel enthält. Das Buch ist vor allem auch eine Kritik an der Ökonomisierung der Krankenhäuser, was bereits dem Untertitel des Buchs zu entnehmen ist, in dem es heißt: „Ein kaputtes System macht es den Tätern leicht“.]
Aber es ist doch ein Risiko, nach draußen zu treten als Arbeitnehmer. Ja, ein solcher Schritt erfordert Rückgrat. Aber ich muss in dieser Situation unausweichlich entscheiden: Bin ich vielleicht später mitverantwortlich für Straftaten, oder nehme ich eine turbulente Zeit in Kauf. Aus der persönlichen Verantwortung komme ich nicht raus – so rum nicht und andersrum auch nicht. Sicher ist, dass niemand, der einen Missstand meldet, entlassen, degradiert, eingeschüchtert oder in anderer Weise angegriffen werden darf – es sei denn, er hat absichtlich etwas Falsches gemeldet.
Wir müssen aber wegkommen von einer ebenso hartnäckigen wie falschen Überzeugung, die da heißt: Solange ich keine handfesten Beweise habe, sage ich nichts. Denn das Beibringen von Beweisen ist Aufgabe der Ermittlungsbehörde und nicht des einzelnen Mitarbeiters oder der Einrichtung.
Was Sie schildern, klingt aber schon so, als müsse man fast selbst ermitteln – gerade auch dann, wenn es nicht um offensichtliche Misshandlungen oder Vernachlässigung geht, sondern es sich erst einmal nur um einen Verdacht handelt?
Denjenigen, die Gewalt beobachten und melden, wird es zu schwer gemacht. Das ist auch meine Kritik. Man muss sich nur ansehen, was im niedersächsischen Celle passiert ist: Dort ist im Sommer 2020 ein Skandal in einem Pflegeheim ans Licht gekommen. Die Bewohner wurden beispielsweise mit ihrer Decke am Bett festgebunden und stundenlang liegen gelassen. Eine Altenpflegerin wandte sich wegen dieser Misshandlungen an die Pflegekammer in Niedersachsen, die den Fall öffentlich machte. Die damalige Präsidentin, Nadya Klarmann, und auch Markus Mai, Präsident der Pflegekammer Rheinland-Pfalz, bezogen klar Position, unter anderem in der Süddeutschen Zeitung
Asymmetrische Beziehungen sind grundsätzlich anfällig für Missbrauch in jeglicher Form.
Das war vorbildlich, dass beide Kammern sich so laut und deutlich geäußert haben. Die Altenpflegerin allerdings, die den Skandal aufgedeckt hat, wurde von ihrem Arbeitgeber wohl fristlos entlassen. Oder denken Sie an den Pflegeskandal in Bayern, wo jetzt zwei Heime geschlossen wurden. Das ist jahrelang verschleppt worden. Die Leute wurden nicht gehört.
Was müsste sich ändern?
Ich glaube nicht, dass irgendeine Institution das Problem lösen kann. Um etwas zu verändern, brauchen wir Aufklärung, und die sollten wir schon in der Ausbildung, in Fortbildungen verankern. Wir müssen klarmachen, dass asymmetrische Beziehungen anfällig sind für Missbrauch in jeglicher Form. Solche Beziehungen sind gekennzeichnet durch ein Macht- und Wissensgefälle. So etwas sehen Sie in der Kirche, in der Schule – aber eben besonders auch in Kliniken und Heimen, wo die Asymmetrie letztlich kaum zu überbieten ist. Das muss man wissen. Das muss auch der Öffentlichkeit klar sein. Wir müssen darüber sprechen, dass es Gewalt im pflegerischen, im medizinischen Bereich wirklich gibt und dass sie nicht so selten vorkommt, wie wir gern glauben würden.
Haben Sie ein Beispiel, wie einem Verdacht korrekt nachgegangen werden kann?
Ja. In Essen ist ein Arzt zu einer dreieinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil er einen Patienten getötet hat. Den Stein ins Rollen gebracht hat ein Pfleger, der diesen Arzt beobachtet hat. Was der machte, kam ihm merkwürdig vor, er schöpfte Verdacht. Er vermutete, dass der Arzt ohne Indikation Mittel spritzte und den Perfusor hochgedreht hatte. Es verging gerade einmal ein Wochenende, dann wandte er sich an die Pflegedienstleitung. Die Pflegedienstleitung informierte ihre Vorgesetzte, die Geschäftsführung und die Chefärzte wurden einbezogen. Es gab eine Konferenz – und den Beschluss, die Ermittlungsbehörden einzuschalten. Und genau so muss es laufen.
Das wäre im Grunde das ideale Vorgehen, wenn ein Verdacht gegen einen Mitarbeitenden besteht?
Ja, das war ein guter Verlauf. Die Klinik hat nicht gewartet – und das, obwohl die Bedingungen schwierig waren, trotz Corona und trotz hohem Krankenstand. Sie haben dort dennoch sofort gehandelt. Und insbesondere vor Menschen wie jenem Pfleger sollten wir uns alle verneigen. Kollegen mit einem solchen Rückgrat, mit einer solchen Zivilcourage sind diejenigen, die weitere Taten verhindern.
Wir müssen wegkommen von einer ebenso hartnäckigen wie falschen Überzeugung, die da heißt: Solange ich keine handfesten Beweise habe, sage ich nichts. Denn das Beibringen von Beweisen ist Aufgabe der Ermittlungsbehörde.
Warum aber wird in anderen Kliniken und Heimen gezögert oder gar nicht reagiert – selbst bei ähnlich konkreten Verdachtsmomenten wie in dem von Ihnen beschriebenen Beispiel, dass der Perfusor hochgedreht wurde? Niels Högel etwa konnte jahrelang Patienten ermorden, ohne dass jemand ihn aufhielt. Am Ende wurde in mehr als 300 Fällen gegen ihn ermittelt.
Es muss uns hochgradig darum gehen, frühzeitig verdächtiges Verhalten zu erkennen. Und dann natürlich auch zu handeln. Wenn ein Verdacht geäußert wird, dann muss er auch geklärt werden. Bei allen Tatserien, die wir kennen, hat es im Vorfeld Gerüchte gegeben. Aber ein Gerücht bleibt eben nur ein Gerücht, solange nicht aufgeklärt wird. In sehr vielen Fällen wurden den Tätern schon lange bevor sie verhaftet wurden, sogar einschlägige Spitznamen verpasst wie etwa „der Vollstrecker“ oder „der Todesengel“. Fast immer fehlt aber in Kliniken und Heimen der nötige Aufklärungswille. Und mehr noch: Teilweise geht es nicht nur um den mangelnden Aufklärungswillen, sondern um gezielte Vertuschung.
Wie kann sich verdächtiges Verhalten äußern? Gibt es Verhaltensweisen, an denen ein potenzieller Patientenmörder zu erkennen wäre oder auch jemand, der sexualisierte Gewalt ausübt?
Was wir in allen bekannten Fällen retrospektiv gesehen haben, war eine Persönlichkeitsveränderung des Täters. Häufig kommt es zu Rückzugsverhalten, zu zynischen Kommentaren, also einer tendenziellen Verrohung, und Nachlässigkeiten in der Dokumentation. Es fallen despektierliche Bemerkungen über verstorbene Menschen. Da ist dann die Rede von „abkratzen“ und von „abnippeln“. Es gibt Rückzüge in den Nachtdienst, um – wie man dann später erkennt – sich der Kontrolle zu entziehen.
Darüber hinaus zeigen sich aber auch Entwicklungen, die man nur erkennen kann, wenn man genau hinschaut. Mit anderen Worten: Es muss ausreichend Personal da sein, und zwar qualitativ und quantitativ, um solche Prozesse beobachten und erkennen zu können. Und es muss klar sein, dass jemand auf Fehler angesprochen wird. In vielen Einrichtungen ist es jedoch so gewesen, dass die Täter gar nicht angesprochen wurden.
Alle Täter haben im Nachhinein ausgesagt, dass sie das Schweigen der Umgebung als heimliche Zustimmung gedeutet haben.
Die von Ihnen genannten Verhaltensweisen zeigte zum Beispiel Irene B. eine Krankenschwester, die auf einer kardiologischen Station der Charité fünf Patienten ermordete. Bei ihrem Prozess hieß es, sie habe sich immer mehr zurückgezogen und zur Eigenbrötlerin entwickelt.
Ja, Irene B. ist mit ihrem merkwürdigen Verhalten und ihren Stimmungsschwankungen ein gutes Beispiel. Kollegen ist das aufgefallen und sie haben das gemeldet. Die Pflegedirektorin sagte dazu vor Gericht: Wir konnten die Meldungen wegen Arbeitsüberlastung nicht bearbeiten. Das klingt zunächst absurd, ist aber ein wichtiger Punkt: Denn die Brisanz solcher Meldungen muss erkannt werden. Es schreibt ja niemand: Hier bringt ein Kollege die Leute um. Stattdessen heißt es: Hier benimmt sich jemand auffällig, geht zum Beispiel grob mit den Patienten um. Oder: Ich habe gehört, wie die Kollegin einen Angehörigen angeschrien hat.
Auch solche Verhaltensweisen sind Frühwarnzeichen?
Solches Verhalten ist immer ein Symptom, ein Hinweis darauf, dass man mit der Person direkt reden muss. Damit ist dem Mitarbeitenden gegenüber auch schon das Signal gesetzt: Du bist hier auf dem Radar, wir sehen, dass da was ist mit dir. Wir wissen natürlich nicht, was das ist, aber wir beobachten es. Du darfst dich nicht in der Illusion wiegen, dass wir das nicht mitbekommen. Alle Täter haben im Nachhinein ausgesagt, dass sie das Schweigen der Umgebung als heimliche Zustimmung gedeutet haben.
Kann hinter diesem Schweigen auch die Angst stehen, jemanden zu Unrecht zu verdächtigen?
Es gibt natürlich auch die andere Seite. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Patientin beschuldigte einen Pfleger in einem Krankenhaus öffentlich, in großer Runde, des sexuellen Missbrauchs. Die Klinikleitung hat das mit diesem Pfleger und seinem Team besprochen. Nach diesen Gesprächen waren alle von seiner Unschuld überzeugt – und dennoch wurde Strafanzeige erstattet. Eine Anzeige in alle Richtungen, um den Vorwurf zu klären. Das war eine quälende Zeit für diesen Pfleger, der aber von seinen Kollegen und auch der Leitung gut unterstützt wurde. Am Ende hat sich herausgestellt, dass an den Vorwürfen nichts dran war, gar nichts. Das Vorgehen und Ermittlungsergebnis wurde betriebsintern ausführlich dargestellt und begründet. Der entscheidende Punkt bleibt aber: Jeder von uns will doch in einer Klinik oder in einem Heim arbeiten, in dem Menschen nicht zu Schaden kommen, und ein Verdacht, wenn er geäußert wird, konsequent aufgeklärt wird.
Wir müssen begreifen, dass wir in den Kliniken und Heimen vor allem ausreichend qualifiziertes, und achtsames Personal brauchen, und zwar in ausreichender Zahl.
Im Evangelischen Krankenhaus Oldenburg wird nun jeder Patient, der dort stirbt, obduziert. Wie schätzen Sie solche Maßnahmen ein – setzen auch sie ein Signal?
In Niedersachsen wurde im Landtag ein Sonderausschuss eingesetzt, der Empfehlungen zur Risikominimierung ausgesprochen hat. Zu diesen Empfehlungen zählt die qualifizierte Leichenschau. Wir wissen auch von Leichenschauen, bei denen außerordentlich schlampig gearbeitet wurde, bei denen die Ärzte großflächige Einstichstellen übersahen und am Ende eine natürliche Todesursache bescheinigten. Eine Leichenschau oder Obduktion liefert aber ohnehin keine toxikologischen Erkenntnisse. Um festzustellen, dass jemand mit einem Medikament vergiftet worden ist, müssten weitere Untersuchungen hinzukommen. Im Grunde versuchen wir hier, das Unfassbare mit einer Standardlösung einzudämmen, es mit administrativen und bürokratischen Mitteln zu verhindern.
Krankenhäuser und Heime, die primär marktwirtschaftlichen Mechanismen folgen, machen eine angemessene Patienten- oder Bewohnerversorgung unmöglich.
Was aber nicht ausreicht?
Medikamente zu zählen, den Bestell- und Verbrauchsweg minutiös zu dokumentieren und nachzuweisen, Obduktionen durchzuführen – all das sind sicher gute und richtige Maßnahmen. Niemand, der die Patientensicherheit erhöhen will, kann dagegen irgendetwas einwenden. Das muss man uneingeschränkt begrüßen.
Wir müssen begreifen, dass wir in den Kliniken und Heimen vor allem ausreichend qualifiziertes, und achtsames Personal brauchen, und zwar in ausreichender Zahl. Dass eine Führung vorhanden sein muss, die tatsächlich präsent ist, einen konstruktiven Umgang mit Fehlern fördert und offene Kritik ermöglicht – und das fängt bei ihr selbst an. Denn wer hingeht und kritische Rückmeldungen aus seinem Umfeld verbannt, schafft natürlich eine Atmosphäre, in der ein offener Umgang mit Kritik und Fehlern verpönt ist. Das muss Führung begreifen.
Dazu gehört auch, als Leitungskraft selbst sagen zu können: Oh, da habe ich einen Fehler gemacht.
Ja – und dann für diesen Fehler auch um Nachsicht, um Entschuldigung zu bitten. Denn eine Entschuldigung, also das Freisprechen von Schuld, ist immer ein Beziehungsgeschehen. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, kann ich mich nicht selbst entschuldigen. Was in diesem Fall bedeutet: Als Leitungskraft entschuldige ich mich nicht, sondern bitte meine Mitarbeitenden um Entschuldigung.
Eine solche Fehlerkultur können Leitungskräfte sicher aktiv beeinflussen – das System als Ganzes dagegen weit weniger.
Krankenhäuser und Heime, die primär marktwirtschaftlichen Mechanismen folgen, machen eine angemessene Patienten- oder Bewohnerversorgung unmöglich. Wenn über die Personalausstattung in einer Klinik oder in einem Heim der Gewinn oder mindestens die schwarze Null entscheidet, dann ist das System falsch. Die unkritische Marktgläubigkeit führt zu einem betriebswirtschaftlichen Tunnelblick und ignoriert, das Patienten und Heimbewohner keine Kunden sind und Medizin und Pflege etwas anderes sind als marktkonforme Dienstleistungen.
Seit 30 Jahren wird systematisch, vorsätzlich und sehenden Auges – aus Kostengründen – zu Lasten der Pflege gespart. Tagtäglich erleiden und erdulden die Mitarbeitenden in diesem System moralische Verletzungen. Sie müssen jeden Tag mit dem Gefühl nach Hause gehen: Ich kann meinen Job nicht gut machen, weil ich zu wenig Zeit habe. Sie sind gezwungen, gegen ihre fachlichen und moralischen Standards zu verstoßen. Und wenn sich diese Strukturen in den Kliniken und Heimen nicht ändern, dürfen wir uns auch nicht wundern, dass einzelne Menschen darauf gewalttätig reagieren und viele den Beruf verlassen.
Interview: Kirsten Gaede/lin
[Sie möchten keines unserer Exklusiv-Interviews mehr verpassen? Dann abonnieren Sie jetzt unseren Newsletter!]
Das Interview erschien zuerst auf der Website des Magazins der Pflegekammer Rheinland-Pfalz.