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Umfrage Medizinethische Entscheidungen

Pflegende beobachten oft Übertherapie – und sprechen das an

Pflegende berichten über unangebrachten Einsatz von Psychopharmaka und Ernährungssonden in einer Studie über die Rolle der Pflege bei medizinethischen Entscheidungen. Die Ärztekammer Rheinhessen und die Landespflegekammer haben die Umfrage gemeinsam organisiert

Wo Pflegekräfte bei Therapieentscheidungen mitreden können – und auch gehört werden – kommt es seltener zu Übertherapien und Missachtung des Patientenwillens. Dies ist das Ergebnis einer gemeinsamen Umfrage der Ärztekammer Rheinhessen und der Pflegekammer Rheinland-Pfalz. Über die Hälfte der Befragten berichtet, Übertherapien öfters oder sehr oft zu beobachten. Die Ergebnisse sind allerdings nur bedingt verallgemeinerbar, weil die Umfrage nur 162 Teilnehmer hatte. Vom Rücklauf zeigt sich Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa von der Pflegekammer enttäuscht. Sie vermutet, dass die Corona-Krise Pflegenden wenig Aufmerksamkeit für andere Themen gelassen hat. „Die Ergebnisse sind daher nicht repräsentativ für das Bundesland allgemein, sondern bilden nur die Erfahrungen der Teilnehmer ab.“

Übertherapie wird vor allem in Krankenhäusern beobachtet

Die Umfrage umfasste 8 Fragen, die in 5 Stufen abgestimmt beantwortet werden konnten. Die meisten Fragen behandelten das Thema Übertherapie und mangelnde Berücksichtigung des Patientenwillens. Gefragt wurde beispielsweise „Wie oft ist es schon vorgekommen, dass Sie der Meinung waren, es würde bei dem/der einen oder anderen Patient*in/Pflegeheimbewohner*in zu viel Diagnostik oder Therapie gemacht?“ 34,6 Prozent der Teilnehmer haben dies bereits „des Öfteren“ erlebt, 21,6 Prozent sogar „sehr oft“. Vor allem Teilnehmer aus Krankenhäusern berichteten dies.

Jeder Vierte meint: Patientenwille wird sehr oft nicht berücksichtigt

Ähnlich sind die Zahlen zum Patientenwillen: 37 Prozent sehen diesen des Öfteren nicht berücksichtigt, 24,1 Prozent sogar sehr oft, 22,2 Prozent gelegentlich. Kein Teilnehmer gab an, dass er eine mangelnde Berücksichtigung noch nie erlebt habe. Auch die Frage „Wie oft waren Sie schon der Meinung, dass eine Ernährungssonde nicht zielführend ist?“ beantworteten 30,2 Prozent mit „des Öfteren“, 17,3 Prozent mit „sehr oft“. Ähnlich waren die Rückmeldungen zum „nicht adäquaten“ Einsatz von Psychopharmaka.

Jeder Zweite hat schon einmal problematische Abläufe erlebt

Bei allen Fragen zu diesem Komplex gab mindestens die Hälfte der Teilnehmer an, problematische Abläufe erlebt zu haben. Wirklich erstaunt ist Anderl-Doliwa über diese Quoten nicht: „Zumindest für Psychopharmaka entspricht das dem, was ich selbst in der Praxis erlebt habe.“ Wenn zu wenig Personal da ist, gebe es oft ein Interesse, dass die Patienten sich eher ruhig verhalten, „und dann wird schon mal zu viel gegeben.“

Ärzte reagieren oft nicht auf medizinethische Einwände

Erfreulich: Ein großer Teil der Pflegekräfte nimmt kritische Therapien nicht einfach hin. 81,5 Prozent hatten die behandelnden Ärzte schon einmal auf ihre Zweifel an diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahmen angesprochen. Nur 11,1 Prozent hatten dies noch nie getan. Dieses Engagement hatte aber nur bedingt einen Effekt: Jeder Dritte sagte, dass der Arzt auf kritische Fragen gar nicht (11,1 Prozent) oder nur selten (22,2 Prozent) einging oder zu einer Änderung seines Vorgehens bereit gewesen wäre. Nur 13,6 Prozent hatten einen Dialog über medizinethische Fragen mit der Ärztin oder dem Arzt öfters erlebt, 8 Prozent sehr oft, 29,6 Prozent immerhin gelegentlich.

Haben Pflegende in Sterbephase eines Patienten mehr Einfluss?

Mehr Einfluss haben Pflegende offenbar, wenn es darum geht, eine Therapie auf mutmaßlichen Wunsch des Patienten zu beenden, auch wenn dadurch die Sterbephase eingeleitet wird: Über 50 Prozent beantworteten diese Frage mit „eher ja“ (26,5 Prozent) beziehungsweise „ja, auf jeden Fall“ (27,8 Prozent). Allerdings räumen die Autoren ein, dass die Frage uneindeutig formuliert war – „mitwirken“ muss nicht unbedingt bedeuten, dass Pflegende auch an Entscheidungen beteiligt waren. „Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, dass die Antworten in dieser Frage dem Trend bei den anderen Fragen widersprach“, sagt Anderl-Doliwa.

Wenn der Patientenwille wenig zählt, kommt es auch leichter zur Übertherapie

Die Studie untersucht auch, inwiefern die verschiedenen Aussagen zusammenhingen (Korrelation) – ob also beispielsweise dort, wo Pflegende mehr Einfluss haben, weniger Überdiagnostik beobachtet wird. Dabei zeigten sich interessante Phänomene. So gibt es einen starken Zusammenhang zwischen mangelnder Berücksichtigung des Patientenwillens und dem nicht adäquaten Einsatz von Psychopharmaka (Korrelation +0,71 auf einer Skala von -1 bis +1) oder einer Ernährungssonde (+0,43). „Die Korrelationen zeigen, dass dort wo in einem Bereich ein inadäquater Umgang wahrgenommen wird, dies wahrscheinlich auch in anderen Bereichen der Fall ist“, sagt Anderl-Doliwa, „die entsprechenden Phänomene treten selten isoliert auf.“

Weniger Übertherapie, wenn Pflegende zu Worte kommen

Und: Dort, wo Ärzte eher auf die kritischen Einwände von Pflegenden eingingen, kam es tatsächlich seltener zu Übertherapie (Korrelation - 0,40). „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Pflegekräfte in Entscheidungen einbezogen werden müssen“, sagt Anderl-Doliwa, „dadurch lässt sich einer Übertherapie offenbar vorbeugen.“

Zeitraum und Teilnehmer der Umfrage

Befragungszeitraum war 1. März bis 1. September 2020. Rund zwei Drittel der Teilnehmenden waren Frauen. 59,5 Prozent arbeiteten im Krankenhaus, 8,6 Prozent im Pflegeheim, 9,9 Prozent in der ambulanten Pflege (übrige: Sonstiges oder keine Angabe). 108 Teilnehmer machten Angaben dazu, in welchem KV Bezirk sie arbeiten. Davon stammten 16,7 Prozent aus Rheinhessen, 13,9 Prozent aus Trier, 28,7 Prozent aus Koblenz und 40,7 Prozent aus dem Bezirk Pfalz.

Autorin: Heike Dierbach

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