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Foto: carterart und Graphics RF/ vecteezy.com

Expertenstandard Mundgesundheit

Gute Mundpflege kann Pneumonie und Diabetes vorbeugen

Im Interview erklären Prof.in Annett Horn und Dr. Elmar Ludwig, was der neue Expertenstandard „Erhaltung und Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ für die Praxis bedeutet. Beide haben die Empfehlungen mitverfasst.

Frau Prof. Horn, warum braucht es den Expertenstandard – ist die Mundgesundheit in der Pflege bislang ein unterschätztes Thema?

Prof.in Annett Horn: Die Anforderungen an die Mundpflege haben sich in den vergangenen Jahren rasant verändert – längst gehört die klassische Vollprothese nicht mehr zur Normalität. Die Erhaltung der Mundgesundheit bringt daher oftmals hochkomplexe Ansprüche mit sich, beispielsweise wenn eine Kombination aus Teilprothese, Implantat und Brücken besteht. Menschen, die aufgrund einer Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit die Mundpflege nicht selbstständig durchführen können, benötigen adäquate Unterstützung.

Weil die Folgen durchaus lebensbedrohlich sein können, wenn die Mundhygiene im Pflegealltag zu kurz kommt?

Dr. Elmar Ludwig: In der Tat. So ist etwa der Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und Lungenentzündungen sehr gut belegt. Das Risiko einer Pneumonie lässt sich um 50 Prozent senken, wenn Zahnprothesen nachts nicht im Mund sind, weil die Beläge auf den Prothesen in dieser Zeit schon nicht aspiriert werden können.

Welche weiteren Wechselwirkungen gibt es?

Ludwig: Diabetes und Parodontitis beeinflussen sich gegenseitig. Ein unkontrollierter Diabetes schädigt den Zahnhalteapparat, umgekehrt führen Entzündungen des Zahnhalteapparats dazu, dass der Blutzucker schwerer zu kontrollieren ist. Eine unbehandelte Parodontitis kann zudem Atherosklerose, aber auch rheumatische Erkrankungen negativ beeinflussen. Ganz allgemein wissen wir heute: Wer gut kauen kann, bleibt länger fit – sowohl motorisch als auch „im Kopf“.

Horn: Neben diesen Risiken dürfen wir auch nicht vergessen, dass es bei der Mundgesundheit schlichtweg um das Thema Wohlbefinden, um soziale Teilhabe und gesunde Ernährung geht.

Und was bringt der Expertenstandard konkret für den pflegerischen Arbeitsalltag?

Horn: Der Expertenstandard zeigt Pflegefachkräften das adäquate methodische Vorgehen auf: Wie sie im Pflegeprozess zunächst den individuellen Bedarf anhand von Assessments einschätzen, Ziele festlegen und die erforderlichen Maßnahmen planen. Er erklärt, wie sie diese Maßnahmen selbst durchführen oder mit anderen professionellen Akteuren koordinieren und sie zum Schluss evaluieren.

Wurden auch frühere Handlungsempfehlungen zurückgenommen?

Horn: Ja, zum Beispiel musste die Anwendung von Butter zum Auflösen von Borken in der Mundhöhle revidiert werden. Butter und andere tierische Fette können bei Aspiration die Lunge schädigen. Außerdem kann Butter zur geschmacklichen Irritation führen. Hinzu kommt, dass viele Menschen tierische Fette ablehnen. Auch von der Reinigung der Zähne mit Schaumstoff-Stäbchen wird abgeraten, weil sie die Zähne nicht wirksam säubern. Zahnprothesen sollten zudem nicht mit Seife geputzt werden, da vor allem Seifenrückstände geschmacklich irritieren können.

Worauf stützen sich die Handlungsempfehlungen für die pflegerische Praxis?

Horn: Die aufwendige Sichtung der aktuellen wissenschaftlich gesicherten Empfehlungen legte auch Forschungslücken offen. In den Kommentierungen haben wir hier über die interdisziplinäre Abstimmung der Expertengruppe für die pflegerische Praxis Handlungsempfehlungen formuliert.

Das im Juli gestartete Onlineportal mund-pflege.net, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, basiert unter anderem auf dem Expertenstandard und richtet sich explizit an Pflegefachpersonen. Welche Inhalte finden sie dort?

Ludwig: Unser Ziel lautet: mit drei Klicks von der Frage zur Antwort. Das Portal greift als Informations- und Schulungsplattform alle pflegerisch relevanten Fragen auf. Zu den Inhalten zählen unter anderem anatomische Grundlagen, Zusammenhänge zwischen Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit sowie die verschiedenen Formen von Zahnersatz. Ein besonderes Merkmal ist die Vielzahl an Fallbeispielen von Auffälligkeiten im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich. Neben Pflegemitteln und deren Anwendung zeigt die Plattform zudem Pflegeszenen zur ergonomischen Unterstützung der Mundpflege. Darüber hinaus werden Tipps zu speziellen Herausforderungen wie Demenz, Mundtrockenheit oder Mukositis erläutert. Hinweise zu Notfallsituationen, zur Zahnarztsuche sowie zur Pflegeausbildung und Fortbildung runden das Angebot ab. Der Zugang ist auf allen digitalen Endgeräten kostenfrei möglich.

Info: Alle Expertenstandards finden Sie auf der Website: www.dnqp.de/expertenstandards-undauditinstrumente

Von Haftcreme, Kompressen und Zahnpasta

Ende September stellt das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) die finale Fassung des Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mundgesundheit in der Pflege“ vor. Hier schon einmal die zehn wichtigsten Punkte im Überblick:

  1.  Eine fluoridhaltige Erwachsenen-Zahnpasta, eine Zahnbürste und ein Mundspülbecher gehören zur Basisausstattung für die Mundpflege bei Erwachsenen.
  2.  Bei empfindlichem Zahnfleisch wird eine weiche Zahnbürste besser toleriert – sie sollte regelmäßig (spätestens alle vier Wochen oder bei starken Abnutzungserscheinungen) ausgetauscht werden.
  3.  Zahnprothesen müssen nachts nicht unbedingt aus dem Mund herausgenommen, aber zur Nacht sorgfältig gereinigt werden.
  4.  Zahnprothesen können unbedenklich mit Zahnpasta und Zahnbürste, noch besser mit einer speziellen (harten) Zahnprothesenbürste geputzt werden.
  5.  Wird Haftcreme für Zahnprothesen verwendet, kann diese mit Kompressen von der Prothese und auch von den Schleimhäuten entfernt werden.
  6.  Reinigungstabletten, in warmem Wasser aufgelöst, können zusätzlich zur mechanischen Reinigung von Zahnprothesen genutzt werden: bei Menschen mit hoher Aspirationsgefahr bzw. bei immunsupprimierten Menschen täglich, sonst jeden zweiten oder dritten Tag. Die Reinigung erfolgt für 10 bis 15 Minuten, danach die Prothese mit Wasser abspülen. Die chemische Reinigung mit der Tablette ersetzt nicht die mechanische Reinigung!
  7.  Zahnprothesen sollten – abgestimmt mit dem Zahnarzt und wenn dies vom betroffenen Menschen toleriert wird – über Nacht außerhalb vom Mund trocken gelagert werden.
  8.  Mit Kompressen lässt sich der Mund sehr gut auswischen oder auch befeuchten. Bei bezahnten Menschen gelingt das Auswischen ohne Verletzungsgefahr, indem die Kompresse um die Zahnbürste gewickelt wird („Zuckerwatte spielen“).
  9.  Aspiration bei der Mundpflege vermeiden und ergonomisch arbeiten. Wie es geht, zeigen der You- Tube-Kanal mund-pflege-3D und mund-pflege.net.
  10.  Darauf achten, dass der Pflegebedürftige regelmäßig, am besten zweimal im Jahr, vom Zahnarzt gesehen wird (Bonusheft) – auch wenn subjektiv oder objektiv keine Probleme mit den Zähnen bestehen und die tägliche Mundpflege gut gelingt.

Zur Person

Dr. med. dent. Elmar Ludwig ist stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Alterszahnmedizin der Bundeszahnärztekammer, war zunächst acht Jahre an der Universität Ulm tätig und ist seit 2009 in Ulm in zahnärztlicher Gemeinschaftspraxis niedergelassen. Er gehört zum Entwicklungsteam von mund-pflege.net.

Prof.in Dr. rer. medic. Annett Horn ist am Fachbereich Gesundheit der Fachhochschule Münster tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der „Prävention und Gesundheitsförderung in der pflegerischen Langzeitversorgung“. Sie ist Dipl.-Pflegewirtin (FH) und ausgebildete Krankenschwester.

Der Artikel ist im September 2022 in der Ausgabe 30 des Magazins der Pflegekammer Rheinland-Pfalz erschienen. Hier können Sie ihn sich runterladen – oder noch weiter unten – einen Blick in die gesamte Ausgabe werfen!   

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