Kammermagazin: Die Generalistik hat Ihren Arbeitsalltag auf fast allen Ebenen gründlich durchgeschüttelt: Sie mussten Lehrpläne komplett neu schreiben, Kooperationspartner in den verschiedenen Settings für Praxiseinsätze finden. Jetzt besuchen Sie Auszubildende während ihrer Einsätze auch häufiger und haben mit Azubis aus ihnen bisher fremden Bereichen zu tun – das sind sicherlich gute Entwicklungen, die aber mit viel Aufwand verbunden sind. Was ist Ihr erstes Resümee: Lohnt sich Ihr Engagement? Ist es die Generalistik wert?
Natalie Waldforst: In jedem Fall! Die Langzeitpflege und die Akutpflege haben sich doch sehr verändert: Es gibt bei den pflegerischen Tätigkeiten längst nicht mehr so große Unterschiede. So kommen heute viel mehr hochaltrige Patienten ins Krankenhaus mit multimorbiden Erscheinungsbildern, auf die sich die Pflegekräfte früher kaum einstellen mussten – Demenz zum Beispiel. Jetzt, in der Generalistik, ist sie selbstverständlich ein Klassiker im Unterricht. Die Senioreneinrichtungen wiederum erleben, dass sehr viele ihrer Bewohner wegen der verkürzten Verweildauer nach einem Krankenhausaufenthalt mit ganz anderen Pflegeanforderungen zurückkommen, das gilt natürlich auch für die ambulante Pflege.
Ein weiterer positiver Aspekt: Altenpflege und Krankenpflege kommen miteinander in den Austausch, die Vorurteile werden weniger, das Verständnis füreinander wächst.
Sonja Brand: Ja, ich würde sagen, Altenpflege und Krankenpflege lernen sogar voneinander. Viele Auszubildende mit Vertiefung Altenpflege erzählen mir zum Beispiel, wie sehr sie die Übergaben im Krankenhaus beeindrucken. Dass dort etwa ganz selbstverständlich Hypertonie statt Bluthochdruck gesagt wird. Diese Fachlichkeit saugen sie auf wie ein Schwamm. Ich habe eine Schülerin mit Migrationshintergrund, für die diese internationalen Begriffe sogar vieles einfacher machen. Seit sie im Krankenhaus gearbeitet hat, macht sie richtig gut mit – als ob sich für sie eine neue Welt aufgetan hätte. Auf der anderen Seite sind Krankenpflege-Azubis beeindruckt davon, wie gechillt die Kollegen in der Altenpflege im Umgang mit Demenz sind. Viele sagen nach dem Einsatz in der Altenpflege auch, dass sie in Sachen Personalbesetzung im Krankenhaus noch vergleichsweise gut bedient seien.
Frau Eicher, was sind für Sie die Vorteile der Generalistik?
Annette Eicher: Ich würde gern berufspolitisch argumentieren: Wir haben es mit dem Pflegeberufegesetz geschafft, den Pflegeprozess wirklich einmal in den Mittelpunkt unseres Lehrplans zu rücken und Themen von unserem ursprünglichen Berufsverständnis her aufzurollen, es ist alles nicht mehr medizinzentriert. Wir sprechen jetzt beispielsweise von Pflegephänomenen und Pflegediagnosen – zwei Begriffe, die es schon länger gibt, die aber jetzt über die Ausbildung endlich einen Weg in die Praxis finden. Ich glaube, die Generalistik bietet eine gute Chance für die Souveränität des Pflegeberufs.
Natalie Waldforst: Wir müssen uns auch klar machen, dass die speziellen Ausbildungen Altenpflege und Kinderkrankenpflege eine deutsche Besonderheit waren. Jetzt mit der Generalistik sind wir international endlich anschlussfähig.
Bringt die generalistische Ausbildung auch Probleme mit sich?
Sonja Brand: Für uns als Berufsbildende Schule hat sich ein Problem noch einmal verstärkt. Zur Erklärung muss ich etwas ausholen: Unsere Auszubildenden kommen aus der langzeitstationären und der ambulanten Pflege. Schon immer war es so, dass wir uns unsere Auszubildenden nicht aussuchen konnten. Wir agieren als Dienstleister für die Träger der praktischen Ausbildung und führen keine Bewerbergespräche. Die Platzvergabe findet nach Poststempel der Anmeldungen statt. Was seit der Generalistik auffällt: Es kommen immer wieder Auszubildende zu uns, die zuvor schon im Krankenhaus waren und dort die Probezeit nicht bestanden haben. Sie können es nun ein zweites Mal mit ein und derselben Ausbildung versuchen, indem sie sich bei einem Altenhilfeträger bewerben. So ist es gut möglich, dass sie im zweiten Jahr ihren Einsatz in einem Krankenhaus haben, das ihnen eigentlich schon gekündigt hatte.
Das halte ich persönlich für schwierig. Es lag ja durchaus ein triftiger Grund vor, warum die Probezeit beendet wurde. Letztlich spiegelt sich das auch in der Kursgröße wider. Diese hat sich um fast 40 Prozent reduziert. Wir führen viele Gespräche mit Auszubildenden, geben Empfehlungen und beraten. Aber das führt nicht immer zum Erfolg.
Natalie Waldforst: Wir können uns als klassische Pflegeschule eines Krankenhauses die Bewerberinnen und Bewerber zwar aussuchen, doch das Problem, das Frau Brand schildert, kennen wir auch – wenn auch nicht in dem Ausmaß. Ein zentrales Problem der Generalistik sehe ich in den Pädiatrie-Einsätzen: Zurzeit müssen es noch 60 Stunden, perspektivisch aber 120 Stunden sein. Wenn man die Pädiatriebetten und die Zahl der Auszubildenden gegenüberstellt, wird schnell deutlich, dass das nicht passt. Wir bekommen wöchentlich Anfragen von Schulen und Trägern, die Pädiatrie-Plätze suchen. Doch wir können niemanden mehr aufnehmen, weil wir schon für unsere eigenen und für die Auszubildenden unserer Kooperationspartner Sorge tragen.
Sonja Brand: Bei uns haben Auszubildende auch Praktikumseinsätze in Förderschulen und Kindertagestätten mit Schwerpunkt der Inklusion absolviert. Kinderarztpraxen haben die Einsätze bisher abgelehnt. Ein ähnliches Problem wie in der Pädiatrie haben wir übrigens in der Psychiatrie. Da mangelt es auch an Einsatzmöglichkeiten. Im ambulanten Bereich wird die Vorlage der Qualifizierung einer gerontopsychiatrischen Fachkraft mit entsprechendem Ausbildungskonzept anerkannt, damit der Einsatz einer Auszubildenden als Psychiatrieeinsatz anerkannt wird. Ob hier das gesamte pflegerische Spektrum abgedeckt wird, sehe ich kritisch.
Annette Eicher: Ich verstehe deine Kritik, Sonja. Sie ist berechtigt, denn das bietet natürlich auch die Möglichkeit, die Schüler einfach im Betrieb zu behalten und den Einsatz so wie bisher weiterlaufen zu lassen ohne wirkliche Schwerpunktsetzung. Und sicherlich ist ein akutpsychiatrischer Einsatz auch noch mal etwas ganz anderes. Was ich aber zu bedenken geben möchte: Es gibt in der Altenpflege viele gerontopsychiatrische Fachkräfte, die ihre Arbeit sehr gut machen und tolle Anleitungskonzepte haben.
Wo sehen Sie die Probleme in der Generalistik, Frau Eicher?
Annette Eicher: Mir fällt auf, dass es nicht immer leicht ist mit der Einhaltung der geforderten Anleitezeit durch die Praxisanleiterinnen und Praxisanleiter. Es gab sie schon vorher, aber im Pflegeberufegesetz ist festgeschrieben, dass die Auszubildenden bei jedem Einsatz zehn Prozent der Zeit von Praxisanleitern begleitet werden müssen. Die Praxisanleiter bräuchten jetzt also viel mehr Zeit für ihre Aufgabe. Was ich aber häufig beobachte: Die Praxisanleiter absolvieren ihre Weiterbildung und anschließend läuft alles so weiter wie bisher in diesem System: Sie sind hin- und hergerissen zwischen ihrer Station und der Schüleranleitung. Das Stationsteam erwartet, dass sie bei Personalmangel mit anpacken, die Schüler möchten angeleitet werden.
Hinzu kommt: Praxisanleitung ist die einzige Weiterbildung, die nicht automatisch mit einer monetären Verbesserung einhergeht. Da hat auch die Politik geschlafen. Das ist schade, weil es ganz viele motivierte Praxisanleiter gibt, die möglicherweise aus ihrem Beruf aussteigen oder zumindest aus der Praxisanleitung, weil sie sagen: „Diesen Stress, den ich mir da machen muss mit Station und mit Schülern, das ist mir einfach zu viel.“
Natalie Waldforst: Wir haben viele zentrale Praxisanleiterinnen und -anleiter, die auch extra vergütet werden. Sie müssen nicht bei fehlenden Dienstbesetzungen in der Praxis einspringen, sondern können sich vollumfänglich der hochqualitativen Anleitung widmen. Wir haben als Schule den Vorteil, dass unser Träger auch Träger der praktischen Ausbildung ist, so können sie Hand in Hand mit unseren Lehrkräften zusammenarbeiten. Dadurch entsteht eine ganz enge Verbindung zu unseren praktischen Einsatzorten.
Annette Eicher: Den Vorteil haben Sonja Brand und ich leider nicht. Aber ich glaube, die Betreuung der Auszubildenden wird zum großen Teil darüber entscheiden, ob die Einrichtungen künftig genügend Kandidaten für die Ausbildung finden. Bewerber und Auszubildende sprechen doch untereinander: In der Einrichtung läuft es gut mit der Praxisanleitung und in der anderen wird man nicht so gut betreut. In den Praxisreflexionen höre ich von den Auszubildenden immer wieder, dass das Setting für sie oft weniger entscheidend ist als das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. Sie möchten sich wohlfühlen und auch als Mensch gesehen werden – nicht nur als zusätzliche Hand.
Danke für das Gespräch!
Info: Das Besondere der BBS
Die Berufsbildenden Schulen sind Kosmopoliten: Die Pflege-Profession wird auch hier tiefgehend und breit gefächert gelehrt, doch gibt es daneben viele andere Ausbildungszweige und Schulformen. So befinden sich unter dem Dach der städtischen BBS II in Kaiserslautern unter anderem noch die Fachschule Wirtschaft und die Fachschule Sozialwesen. Die BBS ist deshalb auch schon immer sehr groß gewesen (immer mehr Schulen der Einrichtungsträger sind es inzwischen auch, wie das Bildungs- und Forschungsinstitut Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein): An der BBS II gibt es ungefähr 2.500 Schüler, die von 160 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden. „Wir lehren als Pflegefachlehrer also nicht nur Pflegeberufe, sondern beispielsweise auch Pflege und Gesundheitsaspekte bei Erziehern“, sagt Sonja Brand.