Ob auf Wikipedia oder den Internetseiten der Sozialministerien oder der großen Verbände wie Caritas und Diakonie: Über die generalistische Ausbildung heißt es zuerst immer, die bisher im Altenpflegegesetz und im Krankenpflegegesetz getrennt geregelten Pflegeausbildungen sind nun in einem neuen Pflegeberufegesetz zusammengeführt. Das ist tatsächlich eine wichtige Information. Weil sie aber so prominent platziert ist, gerät eine ebenso wichtige Information leicht aus dem Blickfeld: Der Pflegeprozess steht mit der neuen Pflegeausbildung unumstößlich im Mittelpunkt. Das mag Außenstehenden nicht so wichtig scheinen. Aber für Pflegepädagoginnen, Pflegepädagogen und die Pflegefachpersonen, die die Auszubildenden in den drei Settings – stationäre Langzeitpflege, ambulante Pflege und Krankenpflege – anleiten, ist es eine tiefgreifende Veränderung.
Mit dem neuen Pflegeberufegesetz, auf dem die generalistische Ausbildung fußt, wird der Pflegeprozess zur Vorbehaltsaufgabe erklärt. Das bedeutet: Nur Pflegefachpersonen dürfen über den Pflegeprozess entscheiden (so wie nur die Ärzte über die Therapie entscheiden), diese Aufgabe können sie nicht delegieren. Somit macht das Gestalten des Pflegeprozesses jetzt das Herzstück des Pflegeberufs aus.
Wegen dieser Neudefinition des Pflegeberufs musste die Ausbildung auch komplett neu organisiert werden – und eben nicht nur wegen der Zusammenführung der drei ehemals eigenständigen Pflegeberufe. Doch worin unterscheidet sich die generalistische Ausbildung konkret von früheren Ausbildungen?
Die Pflege planen, evaluieren und reflektieren, und zwar immer mit Blick auf alle drei Settings – das steht jetzt im Mittelpunkt. Deshalb findet das Lernen jetzt fast immer aus einer Pflegesituation heraus statt. Die Situation kann etwa lauten: „65-Jähriger Patient mit Pankreas-Karzinom“. Anhand des Fallbeispiels werden dann in erster Linie die pflegerischen Aspekte behandelt: Welchen Pflegebedarf hat der Patient? Hat er Schmerzen? Wie kommuniziere ich mit ihm? Was kann getan werden, um seinen Ernährungsstatus zu verbessern? Wie ist seine Lebenssituation? Und, und, und … Sicherlich, auch medikamentöse, anatomische und andere medizinische Aspekte spielen eine Rolle, aber sie haben nicht mehr das Gewicht wie in früheren Ausbildungen. Es gibt keine Krankheitslehre mehr im klassischen Sinne mit den Punkten: Ursache, Diagnostik, Therapie und Prognose. Dieses Hintergrundwissen wird in die Bearbeitung der Pflegesituationen miteingebunden.
- Da die pflegerische Reflexion der Fallbeispiele sehr in die Tiefe geht, können nicht mehr so viele Krankheitsbilder im Unterricht behandelt werden. Das Lernen findet exemplarisch statt. Das ist eine hohe Anforderung, denn die Auszubildenden müssen in der Lage sein, das im Fallbeispiel gelernte Vorgehen im Arbeitsalltag auf andere Situationen und Krankheitsbilder zu übertragen. Unter Pflegepädagogen heißt es deshalb auch gern: „Früher kamen die Auszubildenden mit Rezepten in die Praxis, heute kommen sie mit Zutaten.“
- Ethische und kommunikative Aspekte erhalten noch mehr Gewicht. Es finden im Einführungskurs beispielsweise Körperpflege-Workshops statt, in denen sich die Auszubildenden gegenseitig die Zähne putzen und die Haare waschen. Auch durchziehen die Aspekte Pflegeprozess, Ethik, Entscheidungsfindung und Kommunikation als Querschnittsthemen alle Lernfelder (etwa „Gesundheit fördern“ und „Präventiv handeln“).
- Im ersten Jahr geht es darum, dass die Auszubildenden im Pflegeberuf ankommen. Oberstes Ziel ist nicht, sie fit für die Praxis zu machen (deshalb wird den Ausbildungsbetrieben die Vergütung auch komplett refinanziert). So lernen sie an einigen Pflegeschulen Blutdruckmessen, an anderen nicht. Das Lernen ist spiralig aufgebaut und beginnt mit sehr einfachen Tätigkeiten wie Waschutensilien richten, Fußbad richten und der einfachen Mundpflege. Aber die Ganzkörperpflege im Bett steht noch nicht auf dem Lehrplan, ebenso wenig wie die spezielle Mundpflege etwa bei Borken oder Infektionen im Mund. Selbstverständlich können die Auszubildenden auch in komplexere Pflegesituationen eingebunden werden – sofern eine Pflegefachperson sie begleitet und anleitet. Es empfiehlt sich sogar, das immer wieder zu machen, weil junge Auszubildende Tätigkeiten wie Spritzen aufziehen und Infusionen anlegen oft spannend finden. Aber einen Patienten mit Apoplexie auf sich allein gestellt versorgen – dafür muss die oder der Auszubildende in der Lage sein, die Komplexität der Situation zu erfassen – etwa, dass Schluckstörungen und Wortfindungsstörungen möglich sind.
- Dass Auszubildende nicht überfordert und bei komplexeren Aufgaben zunächst begleitet werden sollten, ist keine neue Erkenntnis. Pflegeschulen haben darauf schon immer hingewiesen. Doch jetzt machen sie den Auszubildenden noch einmal bewusster, dass es zu einer professionellen Haltung gehört, Tätigkeiten, die man noch nicht gelernt hat, tatsächlich nicht zu übernehmen. Die Auszubildenden sind heute selbstbewusster und sagen, was sie können und was sie dürfen und nicht dürfen.
- Insgesamt sieht das Pflegeberufegesetz mehr Anleitung vor. So müssen Auszubildende in jedem Einsatz mindestens zehn Prozent ihrer Einsatzzeit von Praxisanleitern begleitet werden. Ein Betrieb, der diese Vorgabe nicht erfüllt, darf nicht mehr ausbilden.
- Auch die Pflegepädagoginnen und Pädagogen sind mehr gefordert: Sie müssen jetzt jeden Auszubildenden in ihrem Kurs in jedem Einsatz einmal besuchen. So kommt es zu mehr Austausch zwischen Schule und Praxis, was die Qualität der Ausbildung erhöht.
- Die Einsätze sind länger geworden, acht gibt es jetzt insgesamt. Das gesamte erste Jahr verbringen die Auszubildenden in dem Bereich, den sie als Vertiefung gewählt haben. Das heißt: Wer die Vertiefung Langzeitpflege gewählt hat, arbeitet im zweiten Ausbildungsjahr erstmals in der Akutpflege im Krankenhaus – und umgekehrt. Für alle Bereiche gibt es Pflichteinsätze, und zwar:- 400 Stunden Akutpflege- 400 Stunden stationäre Altenpflege- 400 Stunden ambulante Pflege- 160 Stunden Psychiatrie- 60 bis 160 Stunden Pädiatrie
Warum gibt es die Generalistik?
Über die Reform der Pflegeberufe wurde in Deutschland – begleitet von Modellprojekten – fast 15 Jahre diskutiert. 2017 wurde sie dann durch das Pflegeberufegesetz im Bundestag verabschiedet und mit dem ersten Kurs im April 2020 Realität. Endlich entsprach die Pflegeausbildung der EU-Richtlinie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen. Absolventen mit der Berufsbezeichnung Pflegefachfrau oder Pflegefachmann können nun auch ohne aufwendige Anerkennungsverfahren in sämtlichen EU-Ländern arbeiten.
Es ging Pflegevertretern und der Regierung aber auch darum, den Pflegeberuf durch die Generalistik attraktiver zu machen. Denn die Zusammenlegung der drei Ausbildungen Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege ermöglicht Absolventen ein viel breiteres Tätigkeitsfeld. Hinzu kommt: Die Finanzierung der Altenpflegeausbildung war in den Bundesländern sehr uneinheitlich, mancherorts mussten Auszubildende noch Schulgeld bezahlen. Mit dem Pflegeberufegesetz wird die nun einheitliche Ausbildung aus einem gemeinsamen Fonds finanziert.
Hinzu kommt: Alle Auszubildenden erhalten eine Ausbildungsvergütung. Außerdem sind im Pflegeberufegesetz erstmals Vorbehaltsaufgaben definiert und ergänzend wurde ein Pflegestudium eingeführt. 2025 wird die generalistische Ausbildung evaluiert.