Frau Prof.in Riedel, Ihr Thema auf dem diesjährigen Pflegetag Rheinland-Pfalz sind die sogenannten Moral Injuries. Was versteht man darunter?
Der Begriff der moralischen Verletzung stammt ursprünglich aus dem militärischen Kontext. Es waren zuerst britische Forscher, die das Phänomen aufgegriffen haben, um die seelischen Probleme von Veteranen besser zu verstehen. Dabei geht es um die Verletzung der persönlichen Integrität im beruflichen Kontext. Sie tritt dann ein, wenn Menschen Dinge tun müssen, die sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Moralische Belastungen sind im Pflegebereich zum Beispiel vermehrt während der Covid19-Pandemie aufgetreten. In dieser Ausnahmesituation, geprägt von Personalmangel, hohem Stress und fachlicher Unsicherheit waren Pflegende immer wieder gezwungen, Entscheidungen zu folgen, die mit ihrem moralischen Selbstverständnis, aber auch mit ihrer professionellen Berufsethik, wie sie etwa im ICN-Ethik-Kodex festgehalten ist, nicht vereinbar waren.
An welche Maßnahmen denken Sie besonders?
Nehmen Sie die ganzen Restriktionen der Besuchsregelungen, die dazu führten, dass elementare Dinge wie soziale Teilhabe oder die Begleitung durch einen Angehörigen nicht mehr erlaubt waren. Das hat die Pflegenden in ein Dilemma gebracht, auch wenn diese Vorschriften in der Situation natürlich ihren Sinn hatten und Schaden von dem Einzelnen und der Gemeinschaft abwenden sollten. Doch gleichzeitig wurden sie immer wieder mit dem Leid der Betroffenen konfrontiert und mussten erleben, dass es den Menschen mit dieser Entscheidung schlecht ging. Dass sie unter Umständen sogar allein sterben mussten. Verantwortlich für die Durchsetzung solcher Kontaktverbote zu sein, ist schwer in Einklang zu bringen mit den Werten des pflegerischen Handelns: Menschenwürde, Menschenrechtsorientierung und Selbstbestimmung. Und wenn Pflegefachpersonen solchen Belastungen ausgesetzt sind und sie allein bewältigen müssen, kann das zunächst zu moralischem Stress und langfristig zu einer moralischen Verletzung führen.
Was sind die Folgen einer solchen Belastung?
Wenn ich als Pflegefachperson meine zentralen pflegeprofessionellen Werte verletzen muss, verliere ich damit auch meine persönliche moralische Integrität. Ich habe das Gefühl, überhaupt nicht mehr gut handeln zu können. Ein moralisches Belastungserleben ist in seiner Intensität immer etwas sehr Subjektives und kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen, auch wenn es dabei nicht nur um die persönlichen Werte, sondern den geteilten und auch durch die Ausbildung vermittelten Berufsethos geht. Generell zeigen Studien, dass die großen Belastungsfaktoren wie Zeit- und Personalmangel in der Pflege auch vermehrt zu Konflikten mit den berufsethischen Qualitätsansprüchen und damit auch zu einer Verletzung der moralischen Integrität der Person führen. Das zieht dann langfristig oft Burn-out und womöglich den Berufsausstieg nach sich. Wenn wir auf diese Effekte nicht reagieren, dann führt das immer weiter in einen Teufelskreis: Die Personen, die moralisch verletzt sind, kündigen. Und damit steigert sich das Potenzial für die Bleibenden, ebenfalls moralisch Belastendes zu erleben, noch zusätzlich.
Warum ist es überhaupt wichtig, die Belastungen, die Pflegefachpersonen erleben, als moralische zu beschreiben? Man könnte doch einfach von einer psychischen Belastung sprechen?
Ich denke, es ist sehr gut, dass wir jetzt an einem Punkt stehen, wo wir die verschiedenen Qualitäten der Belastungen, die mit dem Pflegeberuf verbunden sind, genauer erfassen. Die moralischen Belastungen kommen auf den Stress und die körperlichen Anforderungen ja noch on top. Aber während dort über das betriebliche Gesundheitsmanagement bereits einiges getan wird, wie etwa Maßnahmen für Rückengesundheit und Stressreduktion, gibt es beim Thema ethische Reflexion und moralische Entlastung noch einen Nachholbedarf. Wenn die Institutionen diesem Trend nicht entgegenwirken, zum Beispiel durch organisationsethische Strukturen oder durch ethische Kompetenzentwicklung, dann wird sich das weiter verfestigen.
Es ist nachvollziehbar, dass gegen das ungute Gefühl, dass man seinen Job aufgrund von äußeren Zwängen nicht so machen kann, wie man es eigentlich sollte, kein Entspannungskurs und keine Rückenschule wirklich etwas ausrichten können. Aber wie helfen hier organisationsethische Strukturen und ethische Kompetenzentwicklung? Braucht es nicht einfach bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege?
Natürlich müssen wir auch auf der Ressourcenebene dafür sorgen, dass gute Pflege möglich ist. Doch eine bessere Ausstattung mit Personal und Geld zu fordern, genügt auch nicht. Es wird in diesem Beruf immer auch Situationen geben, die mit schwierigen Entscheidungen verbunden sind. Deswegen ist es wichtig, dass die Institutionen Formate anbieten, in denen sich die Pflegefachpersonen austauschen und ihre Handlungen ethisch reflektieren können. Das sollte bereits in der Ausbildung verankert sein, den Berufsalltag aber auch ständig begleiten. Denn mit dem moralischen Belastungserleben werde ich ja vor allem auch dann konfrontiert, wenn ich als Pflegefachperson zunehmend Verantwortung übernehmen muss. Die wachsende moralische Verantwortung, die damit verbunden ist, die braucht einen Rahmen, und zwar der ethischen Reflexion, um ethisch gut begründete und tragbare Entscheidungen zu treffen. Und dafür braucht es eigene Strukturen und Unterstützungssysteme.
Welche genau?
Ethische Fallbesprechungen zum Beispiel. Das sind interdisziplinäre Besprechungen, in denen man mit einer bestimmten Systematik die Situation ethisch reflektiert und so zu einer ethisch gut begründeten Entscheidung kommt. Die Entscheidungen können zukünftige, gegenwärtige oder auch vergangene Fälle betreffen und damit auch zur Entlastung für moralisch belastete Pflegefachpersonen beitragen. Es kann aber auch dazu führen, dass man reflektiert und deshalb entlastet in eine schwierige Situation hineingeht und sie dann auch besser bewältigt, weil man die ethische Begründung gemeinsam erarbeitet hat. Das führt dazu, dass die moralische Last nicht von einzelnen Pflegenden getragen werden muss. Und somit insgesamt zu weniger moralischen Verletzungen führt.
Ist denn in einer Ausnahmesituation wie der Pandemie, in der die Zeit überaus knapp ist, wirklich noch Zeit für ein zusätzliches Gesprächsformat wie eine ethische Fallbesprechung?
Wir wissen aus Studien sehr genau, dass diese Zeit absolut gut investiert ist. Denn wenn die moralische Verletzung zum Burn-out oder zum Jobausstieg führt, dann ist es doch besser, ich nehme mir diese Stunde Zeit und sichere damit die moralische Integrität und die Handlungsfähigkeit meiner Mitarbeitenden, – als dass sich der moralische Stress immer mehr bei ihnen anstaut, vielleicht auch jede Übergabe mit schwierigen Diskussionen belastet wird – und man am Ende doch wieder Fachkräfte verliert, die einmal voller Enthusiasmus in den Pflegeberuf gestartet sind.
Dieser Artikel ist im September 2022 in der Ausgabe 30 des Magazins der Pflegekammer Rheinland-Pfalz erschienen. Hier können Sie ihn sich runterladen.